Die eine Frage für ein erfülltes Leben
Was ist deine Leidenschaft?
Diese Frage wurde mir immer wieder gestellt als ich anderen gegenüber äußerte, dass ich schon seit Langem auf der Suche danach bin, welche berufliche Laufbahn ich einschlagen will. Ich konnte sie aber nie so wirklich beantworten.
80.000 Stunden. So viel Zeit verbringen wir in unserem Leben schätzungs-weise mit unserem “Job”. Laut Malcolm Gladwell ist das genug um in acht verschiedenen Dingen ein Profi zu werden. Ob man diese Theorie nun glauben will oder nicht — es ist ganz schön viel Zeit. Und weil es so viel Zeit meines Lebens ist, trägt sie in meinen Augen erheblich dazu bei wie sehr mir das Leben gelingt (mehr zu diesem merkwürdigen Begriff des gelungenen Lebens später).
Vor einer Weile habe ich mit Tjorven den Podcast “Ein Pod Kaffee” gestartet in dem wir zweiwöchentlich mit Menschen sprechen, die häufig genau so eine Leidenschaft schon für sich gefunden haben. Wie beispielsweise Martin Schleske, einem der weltbesten Geigenbauer (Episode #4). Nach dem Gespräch waren Tjorven und ich beide davon überzeugt, dass wir vermutlich noch nie einen Menschen getroffen haben, der mit mehr Leidenschaft über seinen Beruf gesprochen hat. Oder mit Alexander Nemerov, einem Kunstprofessor aus Stanford, der uns erzählte, wie seine Arbeit mit Kunst es ihm ermöglicht, sich selbst besser zu verstehen und kleine Momente des Glücks in allen Dingen des Alltags zu sehen (Episode #3). Er sagt über sich selbst, dass er seinen Beruf schon seit seiner Kindheit als eine Art Bestimmung sieht.
Ich hatte aus lauter Verzweiflung schon meine Farben angemischt und einen Baum im Garten meiner Eltern gefällt um meine erste Geige zu schnitzen — da kam unser Gespräch mit Hans Rusinek.
Hans berät und publiziert zu der Frage, wie wir die Wirtschaft und das Arbeiten in ihr mit mehr Sinn füllen können. Er hat nicht diese eine Sache in seinem Leben für die er vollständig brennt. Ganz im Gegenteil — er zelebriert die Abwechslung, die er sich aktiv sucht. Seiner Ansicht nach gibt es einfach unterschiedliche Typen. Solche wie den Geigenbauer eben, die durch diese eine Leidenschaft eine sehr große Strahlkraft haben und vielleicht ein bisschen einfacher bewundert werden können — und solche wie Hans und vermutlich auch mich, die eben nicht dieses eine Thema haben, das sie bis ins letzte Detail verstehen und perfektionieren wollen, sondern die Abwechslung suchen. Keines der beiden ist besser oder schlechter. Wir Menschen sind manchmal eben unterschiedlich. Was also, wenn die Frage nach der einen Leidenschaft für manche einfach die falsche Frage ist?
Was also, wenn die Frage nach der einen Leidenschaft für manche einfach die falsche Frage ist?
Was macht ein gelungenes Leben aus?
Wenn ich nicht nach dem Thema suche mit dem ich mich befassen will, wonach denn dann? Was macht ein gelungenes Leben aus?
Inspiriert von dem Philosophen Michael Bordt ist Hans der Überzeugung, dass ein Leben dann gelungen ist, wenn es auf die eigenen Werte einzahlt. Das klingt ganz schön abstrakt… Ich war schon kurz davor meine Farben wieder rauszuholen als Hans uns die Wertepyramide vorstellt. Er erklärt uns, dass Werte teleologisch sind. Das ist Philosophensprech für: Werte bauen aufeinander auf und unterliegen einer Architektur.
Die Spitze der Pyramide bildet das gelungene oder erfüllte Leben. Aber darüber zu sprechen ist nicht wirklich möglich, weil es so weit von dem täglichen Handeln entfernt ist. Interessant wird die Ebene darunter, die auf dieses gelungene Leben einzahlt. Und noch eine Ebene darunter das Fundament, welches letztlich die Tätigkeiten abbildet mit denen wir unsere Tage füllen. Diese Tätigkeiten und Werte sind für jeden Menschen anders. Wenn man herausfinden möchte, was einen selbst ausmacht, muss man sich die Zeit nehmen, diese Beobachtungen für sich selbst aufzuschreiben. Also schnappe ich mir ein Blatt Papier und schreibe auf, womit ich meine Tage gerade fülle: Joggen zum Beispiel. Warum jogge ich eigentlich? Weil ich fit sein will. Warum will ich fit sein? Um möglichst viele verschiedene Dinge machen zu können. Warum will ich möglichst viele Dinge machen? Weil ich neues lernen will… usw.
Dieser Prozess dauert eine Weile und beinhaltet eine Menge warum. Irgendwann steht dann aber meine Pyramide. Im folgenden seht ihr neben der Methode vermutlich auch, dass Zeichnen nicht meine Leidenschaft ist:
Hinweis: Ob ein Wert auf einer der obersten Hierarchieebenen liegen kann, lässt sich gut am Beispiel von Geld zeigen: Für die meisten Menschen kann Geld nie ein Endzweck sein, da es immer nur benutzt wird um sich davon etwas zu kaufen oder einem das Gefühl von Sicherheit zu geben. Außer für Dagobert Duck, der gerne morgens in seinem Geld ein Bad nimmt, kann Geld also nie auf der höchsten Ebene liegen. Analog kann man sich die Wertigkeit der anderen Werte herleiten.
Auch wenn ich immer dachte, dass ich das alles ja schon im Kopf mal für mich definiert habe, hat mir diese Übung einiges abverlangt. Ich habe aber das Gefühl, dass sie mir sehr dabei geholfen hat meine Werte-Bausteine und auch mein eigenes Handeln besser zu verstehen.
Diese Wertepyramide ist ein Arbeitsgegenstand. Ihr könnt euch daran verdeutlichen, ob alle Werte, die euch wichtig sind und für die ihr stehen wollt, in eurem Handeln ausreichend vertreten sind. Ist das Fundament stabil?
Genauso könnt ihr sehen, ob ihr eure Tage mit Dingen füllt, die eigentlich nicht auf die Werte einzahlen, die euch wichtig sind. Das schafft ein sehr greifbares Bild von eurem Leben an dem ihr jetzt nach belieben “rumschrauben” und experimentieren könnt, oder eben nicht.
Für mich hat es die Frage von der Leidenschaft auf die Frage, was mir wichtig ist und was mich ausmacht, verschoben. Diese Fragen kann ich deutlich besser beantworten als die eingangs gestellte. Das gibt mir ein gutes Gefühl, spart Farbe und rettet Bäume.
Neben der Wertepyramide hat Hans noch unzählige weitere spannende Ideen und Methoden mit uns geteilt. In Episode #6 “Teilchenphysiker oder Eidechse” von Ein Pod Kaffee könnt ihr alles dazu nachhören: