Gedankenstrich: #1 Franzi Heyde
Im März 2020 gab es die allererste Folge Ein Pod Kaffee. Philipp in den USA, ich in Augsburg, verbunden via Zoom-Konferenz und iPhone-Kopfhörern — denn sie wussten nicht, was sie tun. Nervös, aber hochmotiviert saß ich auf dem Bett, den Laptop auf dem Schoß in freudiger Erwartung auf unser Gespräch mit Franzi Heyde. Franzi war uns aus Gran Canaria zugeschaltet, dem Ort an dem sie gemeinsam mit ihrem Freund die Hälfte des Jahres verbringt. Sie hatte schon weit vor der globalen Pandemie erkannt, dass “in Deutschland in Bezug auf Lebenswege jenseits des Mainstreams viel mehr geht, als gemeinhin bekannt ist”. Vor der Zeit auf Gran Canaria lebte sie für einige Jahre in einem Gartenhaus in Berlin oder verbrachte mehrere Monate in Stille auf Mallorca. Es war diese Offenheit für alternative Lebensmodelle und ihre Neugier, so vieles im Leben auszuprobieren, die mich schon vor unserem Gespräch an ihr begeistert hat. Auch ein Jahr danach verbinde ich ihren Namen mit dieser Eigenschaft. Es ist ein Motiv, welches bei vielen unserer Gäste folgen sollte. Deshalb gibt es in diesem Gedankenstrich ein Plädoyer für (mehr) Neugier.
Ein Plädoyer für (mehr) Neugier.
Zugegebenermaßen, der eigentliche Wortsinn ist durchaus negativ konnotiert. Die Gier nach etwas Neuem. Wer hat’s erfunden — die Römer. Cicero soll vor etwa 2000 Jahren in einem Brief an seinen Freund Atticus erstmalig das Wort curiositas verwendet haben, um über seinen eigenen Durst nach Klatsch und Tratsch zu spotten. Heutzutage würde man ihn Gossip Girl nennen. Angelehnt an cupiditas, die Begierde, schuf er ein Wort, um seiner Sorge Ausdruck zu verleihen, nicht auf dem neuesten Stand zu sein und etwas zu verpassen. Auch in der Antike gab es also schon FOMO. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts galt die Neugier vorwiegend als Laster und sogar als Sünde. Erst mit Beginn der Neuzeit, dem Zeitalter von Wissen und Erkenntnis, wurde sie zu etwas Positivem.
In der Psychologie definiert man die Neugier heutzutage als “Bestreben des Menschen, eine Ordnung in die Erscheinungen seiner Umwelt zu bringen” (Stangl, 2018). Es ist der Wunsch mehr zu erfahren, meist geleitet von initialem Enthusiasmus und ehrlicher Offenheit.
“Nur aus Enthusiasmus kann Neugierde entstehen, und nur wer neugierig ist, kann lernen.” — Leonard Bernstein
Zumindest verstehe ich die Neugier so — schließlich soll das hier ja auch ein Plädoyer für sie werden. Man kann Neugier sicherlich immer noch als Laster verstehen. Aber vielleicht ist es dann auch eine Begriffsdiskussion. Das Gefühl, jeden Tag bei Instagram gucken zu müssen, was die anderen machen, ist vielleicht eher betäubender Social-Media Voyeurismus und das neumodische Pendant zu Ciceros curiositas. Die Gier, Wissen anzuhäufen und bei sich zu “horten”, nur um damit prahlen zu können oder andere bloßzustellen, ist Habsucht. Nein, heute lasse ich nichts auf die Neugier kommen.
Auch wenn uns die Neugier in die Wiege gelegt ist und Genforscher davon ausgehen, dass sie angeboren ist, ist sie keineswegs ein lebenslanges Selbstverständnis. Sie erfordert die Bereitschaft, Denkleistung zu investieren um Neues zu erkunden und der omnipräsenten Versuchung zu widerstehen sich das Leben durch Stereotypen und Vorurteile leicht zu machen. Sie erfordert, dass wir unsere Eitelkeit und unseren (falschen) Stolz ablegen, wenn wir zeigen, dass wir etwas noch nicht können oder verstanden haben. Sie verlangt, dass wir uns um sie kümmern und sie vielleicht auch wieder neu entdecken, wenn wir sie nach einer frustrierenden Schulzeit oder dem Hamsterrad des Alltags vielleicht schon fast vergessen haben.
Aber ich verspreche euch, die Neugier wird es euch danken. Sie ist, so finde ich, eine der schönsten Eigenschaften des Menschen. Sie ist ein lebenslanger Begleiter, der auch in Krisenzeiten Hoffnung spenden kann. Sie bewirkt Offenheit für anderes und geht einher mit Toleranz. Sie zeigt uns einerseits, wie vielfältig und bunt das Leben ist und wie wenig wir letztlich wissen. Neugier erzeugt Demut. Sie erhält das Kind in uns und gibt dem Leben Leichtigkeit. Sie ist ein wichtiger Gegenspieler zur Angst, die uns stetig versucht zu überzeugen nichts Neues zuzulassen. Sie ist ein Jungbrunnen, motiviert sie uns doch lebenslang zu lernen um ihrer selbst Willen. Sie war, ist und bleibt die Grundlage für Fortschritt im Leben, ob in Wissenschaft, Kunst oder Wirtschaft, ob als Individuum oder als Gesellschaft.
Es war die Neugier, die Philipp und mich diesen Podcast hat starten lassen. Wir wollten von Menschen lernen, die uns faszinieren. Wir wollten Leben kennenlernen, die fernab unserer eigenen Wege sind. Wir wollten verstehen, wie man einen eigenen Podcast macht. Ein Pod Kaffee ist zu einem absoluten Herzensprojekt und zu einer Leidenschaft geworden. Neugier sei Dank.
In “Gedankenstrich” lassen Tjorven und Philipp abwechselnd Folgen aus dem letzten Jahr auf ganz unterschiedliche Art und Weise Revue passieren. Immer persönlich, meistens zum Lesen und dann vielleicht ja für euch auch zum (Nach)hören der Folge unter www.podfollow.com/einpodkaffee. Mehr zu uns unter www.einpodkaffee.de