Gedankenstrich: #3 Alexander Nemerov

Ein Pod Kaffee
4 min readApr 11, 2021

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Adolph Menzel — Kamm mit Haaren in zwei Ansichten (via Wikimedia Commons)

Kunst hat mich sehr lange nicht interessiert. Besuche von Museen waren für mich immer ein desinteressiertes Lesen von Beschreibungstafeln und das Spiel, wie nah ich Bildern kommen kann bis mich eine der Aufseher*Innen ermahnt oder ein Alarm losgeht. Ich kannte nie die Namen von Künstler*Innen, geschweige denn die ihrer Werke. In den letzten Jahren jedoch hat Kunst für mich einen persönlichen Wert gewonnen, den ich nicht mehr missen möchte. Großen Anteil daran hatte sicherlich Alexander Nemerov, dessen Kunstkurs ich (zunächst eher zufällig) während meines Auslandssemesters besucht habe. Er lehrt einen sehr intuitiven Zugang zur Kunst der mich sehr angesprochen hat. In diesem Text möchte ich beschreiben, warum Kunst für mich inzwischen so wertvoll ist und warum ich glaube, dass sie für fast jeden das Leben schöner und bewusster machen kann. Ich möchte erklären, wie Kunst Pflanzen am Straßenrand in Feuerwerkskörper verwandeln kann (ohne, dass sie dabei zu Schaden kommen natürlich) und warum das Bild von einem Kamm für mich etwas besonderes geworden ist.

“Der Kamm in zwei Ansichten” von Adolph Menzel ist eines der Bilder in meiner persönlichen Kathedrale. “Persönliche Kathedrale” klingt vielleicht ein bisschen missverständlich. Ich habe keine wirkliche Kathedrale (noch nicht). Die persönliche Kathedrale ist eine Idee, die mir mein Kunstgeschichte Professor Alexander Nemerov in den Kopf gebaut hat. In fast jeder seiner Vorlesungen wies er uns darauf hin, dass Kunst etwas höchst persönliches ist. Es geht darum, was gewisse Werke in uns auslösen. Nicht um große Namen, hohe Summen oder Prestige. So ermutigte er uns stets mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und das, was uns berührt in unsere persönliche (imaginäre) Kathedrale aufzunehmen. Meine ist inzwischen reich bestückt mit Werken von Menzel, Picasso, Enrique Martinez Celaya, Dürer und vielen weiteren Künstler*Innen. Es hängen nicht immer alle Werke aus, aber wenn mir danach ist, weiß ich recht schnell, wo ich im Keller suchen muss, um eine gute Zeit zu haben. Viele dieser Werke sind mit Erinnerungen und Gefühlen verbunden. Oft werfen sie mich in eine besonders bewegte Zeit zurück, geben mir Anstöße zum Nachdenken, oder sind einfach nur schön anzusehen.

Albrecht Dürer — Wing of a blue roller (via Wikimedia Commons)

Zurück zu dem Kamm mit dem bei mir alles angefangen hat. Was ist schon so besonders an einem einfachen Kamm mit ein paar zerzausten Haaren? Von wem sind diese Haare? Vielleicht ist es der Kamm einer geliebten Person? Wie lange hat die Person diese Haare mit sich herumgetragen, bevor der Kamm sie vom Kopf entfernt hat? Was, wenn der Kamm das Letzte wäre, was von dieser Person zurückgeblieben wäre? Wieso bekäme er dann auf einmal so ein Gewicht, wenn es jetzt gerade doch für mich nur einfach irgendein Kamm ist? Unser Geist macht Momente und Dinge zu etwas Besonderem. Es ist die Art und Weise, wie wir wahrnehmen, die unserem Leben Farbe verleiht. Vielleicht ist es nur ein Kamm mit ein paar Haaren. Aber dieser und jeder Kamm mit Haaren aus zwei Ansichten ist gleichzeitig nichts und alles.

Du musst den Kamm aus zwei Ansichten nicht spannend finden und schon gar nicht meine Gedanken dazu. Aber wenn du es bis hier geschafft hast, dann möchte ich dich zu folgendem einladen: Bau dir deine eigene Kathedrale auf. Nimm dir die Zeit dich in einem Museum oder einer Galerie umzuschauen oder stöbere auf WikiArt herum, solange noch alles geschlossen ist. Was berührt dich und was regt dich zum Nachdenken an? Gib dir die Zeit diesen Gedanken nachzugehen und schau, wo sie dich hinführen. Kunstwerke sind eine wunderbare Projektionsfläche für deine Gefühlswelt. Sprechen dich gerade dramatische Bilder an oder eher ruhige? Gibt es eine besondere Farbgebung, die dir immer wieder ins Auge springt? Was sagt das über deine aktuelle Situation und dein Gemüt? Mir hilft die Auseinandersetzung mit Kunst immer wieder, besser zu verstehen, wer ich bin und was mich gerade begeistert. Zu sehen, wie meine Aufmerksamkeit von unterschiedlichen Werken in verschiedenen Situationen gefangen wird, ist ein wunderbarer Spiegel.

„Art enables you to see the world more aesthetically without the need for a museum.“ — Alexander Nemerov

Darüber hinaus pflegt Professor Nemerov zu sagen: „Art enables you to see the world more aesthetically without the need for a museum.“ Nachdem er uns im Kurs einmal darauf hingewiesen hat, dass die Palmen in der Eingangsallee zur Universität aussehen wie pflanzengewordene Feuerwerke, fuhr ich jedes Mal mit einem Lächeln und ganz viel Feuerwerk um mich herum zur Uni. Kunst hat mir geholfen das Besondere und das Schöne noch viel mehr in meinem Alltag wahrzunehmen. Sogar in einem einfachen Kamm.

Die Vorlesungsreihe von Prof. Nemerov, die ich besucht habe, heißt “How to look at art and why”. Dieser Text wird nicht ansatzweise den Anstößen, die ich dort bekommen habe, gerecht und auch wenn einiges von dem, was ich damals gelernt habe so langsam verfliegt, bleibt dieses Gefühl von Neugier und Offenheit. Ich bin sehr glücklich, dass Tjorven und ich damals zu der Zeit, als ich seine Vorlesung besucht habe mit dem Podcast angefangen haben. So konnte ich ein bisschen mehr von diesem Gefühl in unserem Gespräch (#3 — How to look at life and why) einfangen. Für die Meisten ist diese Folge nur irgendein Kamm mit zerzausten Haaren, aber für mich ist sie viel mehr. Hör doch nochmal rein, vielleicht wird sie das für dich ja auch!

In “Gedankenstrich” lassen Tjorven und Philipp abwechselnd Folgen aus dem letzten Jahr auf ganz unterschiedliche Art und Weise Revue passieren. Immer persönlich, meistens zum Lesen und dann vielleicht ja für euch auch zum (Nach)hören der Folge unter www.podfollow.com/einpodkaffee.

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Written by Ein Pod Kaffee

Philipp and Tjorven host Ein Pod Kaffee - A biweekly podcast about the search for meaning, fulfillment & inspiring life stories / podfollow.com/ein-pod-kaffee

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